Nachgefragt: Todesstrafe schon für ein paar geklaute Lebensmittel

Auf dem Gebiet der Wolfenbüttler Pfarrgemeinde St. Petrus lag auch das Strafgefängnis Wolfenbüttel. Unter den Gefangenen gab es zahlreiche osteuropäische Zwangsarbeiter und westeuropäische Widerstandskämpfer, viele so genannte „Nacht- und Nebel-Gefangenen“.

Diese Menschen waren zum größten Teil Katholiken. Die damaligen Pfarrer der Gemeinde arbeiteten auch im Strafgefängnis als Gefängnisseelsorger und haben die meisten Todeskandidaten besucht und in der letzten Nacht vor der Hinrichtung begleitet. Von den „Nacht und Nebel-Gefangenen“, die nur eine Nummer hatten, haben sie unter Todesgefahr die Namen erfragt und nach dem Krieg die Sterbebücher der Pfarrei mit ihren Namen vervollständigt. Außerdem haben sie – soweit möglich – die Angehörigen informiert. Seit 25 Jahren erinnert die Kolpingfamilie Wolfenbüttel mit einem Gedenkgottesdienst an die Opfer der NS-Justiz. Mitinitiatorin ist die Theologin Mechthild Ludwig-Mayer.

Wie sieht die Erinnerungskultur der Kolpingsfamilie in Wolfenbüttel aus?

Zusammen mit der Pfarrei St. Petrus der Wolfenbütteler Gruppe von Amnesty International und der Gedenkstätte in der JVA lädt die Kolpingfamilie seit 1995 am 11. April zu einem ökumenischen Gedenkgottesdienst „Gegen das Vergessen der Opfer in der ehemaligen Hinrichtungsstätte des Strafgefängnisses Wolfenbüttel“ ein. Der Tag dieses besonderen Gedenkgottesdienstes ist immer der Dienstag in der Karwoche. Das war 1945 eben der 11. April, der Tag an dem die Alliierten die Stadt Wolfenbüttel befreiten. Im jährlichen Gedenkgottesdienst wird jeweils an eine spezielle Gruppe von Opfern gedacht. Im Laufe der Jahre haben wir den Opferbegriff auf die Menschen erweitert, die nicht hingerichtet wurden, sondern an den Bedingungen in der Haftanstalt gestorben sind.

Welche Orte der Erinnerung gibt es in der Stadt?

Die Erinnerungskultur des Gedenkgottesdienstes gehört dreigliedrig zusammen: Diese Gedenkfeier einmal im Jahr in der Petruskirche, die Hinrichtungsstätte als Gedenkstätte und der Gedenkort auf dem katholischen Friedhof. Wir haben an der Friedhofskapelle eine Tafel mit den Namen der Hingerichteten angebracht, hinter der Friedhofskapelle befindet sich ein durchgeschnittener Gedenkstein und Gräber von ehemals Hingerichteten, die nach dem Krieg nicht in ihre Heimatländer zurückgeführt und dort beerdigt werden konnten. Für die Stadt gibt es noch mehr Gedenkorte, die Stolpersteine, die Gedenkstätte auf dem Städtischen Friedhof nicht zu vergessen.

Welche Hindernisse gab es in der Vergangenheit?

Als wir zum Beispiel den Gottesdienst über die polnischen Zwangsarbeiter vorbereitet haben, bekamen wir Drohungen, dass uns die Fenster eingeschmissen würden. Auch die Gottesdienste über Sinti und Roma, Widerstandskämpfer oder Homosexuelle waren nicht überall in der Gemeinde akzeptiert. Diese Menschen galten für viele als Verbrecher und bis weit nach dem Krieg sogar im strafrechtlichen Sinn. In der nationalsozialistischen Rechtsprechung wurden jedoch kleine Vergehen von Menschen aus solchen Gruppen hart verurteilt. Sie bekamen ein Strafmaß, das in überhaupt keinem Verhältnis zur Tat stand. So wurde beispielsweise ein Bahnarbeiter mit vier Kindern, der ein paar Lebensmittel und andere Gegenstände aus Paketen gestohlen hatte, als schwerer Volksschädling zum Tode verurteilt, weil er der Versorgungslage der Bevölkerung im Deutschen Reich in der Kriegszeit geschadet hatte und Nachahmer abgeschreckt werden sollten. Man muss einfach in Erinnerung rufen, dass es zu solch unverhältnismäßigen Urteilen kam.

Wo lauern heute Gefahren?

Viele Menschen leiden in Unrechtsstaaten noch an der gleichen Problematik. Die Todesstrafe ist noch in vielen Ländern gängige Methode der Rechtsprechung. Die Menschenwürde zählt nichts. Deshalb arbeiten wir von Anfang an mit Amnesty International zusammen. Wenn wir bei Tee und Fladenbrot im Anschluss an den Gedenkgottesdienst im Gemeindehaus, dem Roncalli-Haus, zusammensitzen, haben sie ihre aktuelle Ausstellung und ihre Unterschriftenlisten und Petitionen mit dabei.

Im neuen Dokumentationszentrum werden auch die Biographien der Täter – Staatsanwälte, Richter und Vollzugsbeamte – vorgestellt. Was halten Sie davon?

Ich finde das unbedingt richtig, es geht nicht nur um die Opfer. Die Namen sind ja öffentlich und sie werden ja in unserem Gottesdienst teilweise genannt. Dass Staatsanwälte und Richter nach dem Krieg ohne Konsequenzen in der Justiz weitergearbeitet haben, schreit zum Himmel. Es gab aber auch genug Priester, die diese Ideologie weiterverbreitet haben. Dieser braune Virus war flächendeckend überall. In unserem Gedenken wird das, was die Täter gemacht haben dargestellt, aber nicht verurteilt. Sie werden Gottes Gnade anvertraut. Wir können nur mit unseren Möglichkeiten dafür sorgen, dass wir wach rufen, dass wir erinnern und den Anfängen zu wehren versuchen.

Fragen: Sabine Moser