Was ist die Wahrheit?
Du sollst nicht lügen, sagt die Bibel. Wir nicken zustimmend. Aber wie halten wir es wirklich mit der Wahrheit? In Braunschweig geht es bei der „Woche der Wahrheit“ vom 1. bis 9. Juni um das Thema. Warum? Das sagt Mitveranstalter Thomas Harling. Hoffentlich ehrlich.
Herr Harling, warum eine Woche der Wahrheit?
Wir waren dabei, für das Bistum eine Art Kulturbüro aufzubauen. Meine ersten Besuche waren kurz nach der Wahl von Donald Trump und alle Leute waren aufgebracht, empört und verunsichert. Wie kann man so mit der Wahrheit umgehen? Daraus folgte natürlich: Wie soll man mit der Wahrheit umgehen – am Krankenbett, im Gefängnis, im Kindergarten?
Was ist für Sie als Theologe Wahrheit und wo fängt die Lüge an?
Die Kirche hat mit der Wahrheit ja oft ihre liebe Not. Über Jahrhunderte wurde die Suche nach der Wahrheit mit der Durchsetzung von Autorität verwechselt. Und mancher Umgang mit den Fällen sexualisierter Gewalt in der Kirche zeigt, wie dramatisch und zerstörerisch das Fehlen von Wahrheit ist. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, sagt Jesus im Johannesevangelium. Das ist für mich ein Hinweis, dass es sich doch um einen Prozess handelt, um ein Unterwegssein, um eine Suche. Nicht um etwas, das man einmal hat und nur noch zu verwalten braucht. Die Wahrheit hat etwas mit dem Leben zu tun, es geht auch um die Wahrheit meines Lebens, um die Frage ob und wann ich mein Leben für stimmig halte. Die Lüge gehört dazu, aber ich glaube, sie ist eher eine Sackgasse als eine strategisch hilfreiche Marschrichtung.
Sind Notlügen tolerierbar?
Ich kann mit dem Augenzwinkernden gut leben, das der Begriff Notlüge transportiert. Aber mein Eindruck ist, dass Lügen eher Not erzeugen oder verschlimmern, als dass sie sie abwenden.
Wie wichtig ist für Sie Wahrheit für das Zusammenleben der Menschen?
Sehr wichtig. Ich glaube, man muss aber aufpassen, dass man nicht alles mit Argusaugen betrachtet und überall den Schatten von Falschaussagen wittert. Es geht nicht um kleinliche Rechthaberei, sondern um eine Haltung. Es geht um Verantwortung, um Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Aber es geht vor allem um Vertrauen. Eine Gesellschaft, die sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass die Menschen grundsätzlich bemüht sind, ehrlich zu sein, hat ein Problem.
Sie sagen, dass der Humor wichtig bei der Suche nach Wahrheit ist. Warum sind Sie dieser Meinung?
Humor hilft dabei, sich von den eigenen Positionen zu distanzieren, auch die Komik in aller Ernsthaftigkeit zu sehen. Paulus sagt, dass unser Erkennen Stückwerk ist. Wenn man das weiß, dann kann man die eigenen Versuche und Fehlversuche durchaus heiter zur Kenntnis nehmen. Und man kann die Frage stellen, ob man etwas über die Wahrheit auch außerhalb der üblichen Foren und Zirkel wahrnehmen kann, z.B. beim Fußball oder auf dem Wochenmarkt. Humor verbindet Menschen über ihre inhaltlichen Positionen hinaus und bewahrt vor Fanatismus.
Wie absolut kann Wahrheit sein: Gibt es nur eine Wahrheit oder gibt es Fälle, in denen dies auch im Auge des Betrachters liegen kann?
Ich habe kein Problem damit zu glauben, dass es eine absolute Wahrheit gibt. Aber was ich davon begreifen oder erahnen kann, ist sehr davon abhängig, in welcher Lage ich mich befinde, welche Erfahrungen ich gemacht habe, wonach ich auf der Suche bin – und was meine Interessen sind. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass der Austausch über das, was ich für wahr halte, ein mühsames Geschäft ist, bei dem ich erklären muss, woher ich komme und wohin ich will. Mühsam, aber notwendig. Wahrheit hat mit einfachen, plakativen Behauptungen nicht viel zu tun.
Im Moment scheint es, Lügen sind salonfähig geworden: Wie soll man – in Politik, Beruf, Gesellschaft – damit umgehen, wie sanktionieren?
Ja, einerseits scheint es, dass Lügen salonfähig geworden sind, andererseits ist der Widerstand dagegen gegenwärtig aber auch besonders groß. Die Trumpschen Twitterexzesse und die unverschämten Lügengebilde anderer Potentaten haben dazu geführt, dass sehr viele Menschen sich mit Grundfragen der Demokratie, des Zusammenlebens, der Kultur beschäftigen. Man darf sich nicht abschrecken oder verführen lassen von den kompromisslosen, scheinbar unumstößlichen „Wahrheiten“. Ich glaube, es gilt, sich inhaltlich, aber besonders auch in der Art und Weise der Auseinandersetzung zu unterscheiden. Respekt, Offenheit, Humanität gehören für mich wesentlich zur Wahrheitssuche dazu.
Fragen: Sabine Moser
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