Warum wir so geworden sind, wie wir sind

 Erstmals seit ihrer Vertreibung wagen sich die Eltern in die schlesischen Dörfer ihrer Kindheit – begleitet von ihren beiden Söhnen. Markus Mittmann aus Braunschweig hat einen Roman über diese Entdeckungsreise geschrieben: „Wodka mit Grasgeschmack“.

Markus Mittmann steht am Güterbahnhof in Braunschweig und spricht über seinen kürzlich erschienenen Roman „Wodka mit Grasgeschmack“: „Wenn man das Buch ganz kurz zusammenfassen wollte in Form eines Getränkes statt in einem Klappentext, dann wäre das dieser Wodka mit Grasgeschmack.“ Der Grashalm, der tatsächlich in der Flasche steckt, bedeute Heimat, habe auch etwas mit Polen zu tun, mit Osten, Sehnsucht und Ferne. „So habe ich dieses Getränk in einer ganz zentralen Szene platziert, in der die Eltern auf der Reise nach Schlesien im Elternhaus des Vaters ankommen, dort eine Polin antreffen, die sie ganz gastfreundschaftlich aufnimmt und ihnen eben diesen Wodka mit Grasgeschmack kredenzt.“

Das Treffen mit Markus Mittmann an den Gleisen war nicht zufällig. „Ein Bahnhof und gerade diese Güterzüge haben für mich eine symbolische Bedeutung“, sagt der Katholik. Dieser Ort bedeute für ihn Ankunft in ein neues Leben. Er denkt dabei an die Vertreibung seiner Eltern Regina und Alfons Mittmann vor fast 75 Jahren aus Schlesien. „Güterzüge sind für viele Vertriebene das Symbol ihrer Vertreibung geworden. Sie stehen für äußere Heimatlosigkeit, die auch immer mit einer inneren Heimatlosigkeit verbunden ist“, differenziert er. Seine Mutter kam 1946 mit einem Güterzug in Mariental bei Helmstedt und sein Vater ebenfalls im Jahr nach Kriegsende mit einem anderen Transport in Salzgitter-Immendorf an. Beide stammen aus Orten unterhalb von Breslau und sind – wie fast alle aus dieser Region – katholisch. Kennengelernt haben sie sich dann in Braunschweig. Seine Eltern sind zwar hier angekommen, „aber wirklich mit ihrer Seele angekommen im Sinne von Heimat sind sie nie.“ Sein Großvater hat auf einigen Schreibmaschinenseiten sein Leben aufgeschrieben. Den Schlusssatz fand Mittmann so eindrucksvoll, dass er ihn in seine Erzählung übernommen hat: „So schön alles hier auch ist, schöner als unsere alte Heimat war das nie.“

Natürlich habe der Roman auch etwas Autobiographisches. „Ich finde, man darf nur über Dinge schreiben, mit denen man sich auskennt, die mit der eigenen Seele zu tun haben. Nur in solchen Büchern kann wirklich Tiefe entstehen.“ Als er das sagt, spricht er ganz schnell und voller Enthusiasmus. So sieht er auch seine Kunst. Autor Markus Mittmann ist nämlich zugleich Bildender Künstler, Kunsthistoriker und Stadtplaner. Als Angehöriger der Universität Hannover promovierte er am dortigen Fachbereich Architektur mit einem Thema zur Architektur des Nationalsozialismus.

Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte

Für Mittmann war das Schreiben seines ersten Romans die Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte. Als Familienerzählung oder Selbsterfahrung sieht er sein Werk jedoch ganz bewusst nicht. „Ich habe gemerkt, wie vielen Menschen es ähnlich geht und dass es sogar Leute gibt, die sich regelmäßig als Kriegsenkel treffen. Also, dass sich Menschen treffen, die diese Zeit nicht miterlebt und gemerkt haben, irgendetwas ist in ihnen, was nicht von ihnen ist“, beschreibt er eindringlich. Stellvertretend für die Nachgeborenen der Kriegsgeneration stellt er die Frage: „Warum sind wir so geworden, wie wir sind?“

Exemplarisch will er mit dieser Geschichte zeigen, wie das Trauma von Flucht und Vertreibung heimlich aber wirkungsvoll die nächsten Generationen prägt, Lebensläufe bestimmt. Außerdem geht es Mittmann darum, welche wichtige Rolle das Erinnern besitzt, um die gesellschaftliche Entwicklung und sich selbst zu verstehen.

So wirken die Verlustängste der Vertriebenengeneration auch in ihm weiter: „Ich kann keine Lebensmittel wegwerfen und gerate in Gefahr, Verdorbenes zu essen.“ Daneben hat er eine Abneigung gegen Fernreisen und bleibt eigentlich immer ganz gerne zu Hause. „Das setzt sich auch in anderen Generationen fort. Einer meiner Söhne will gar nicht verreisen, er will auch in den Ferien nicht wegfahren. Er sagt, er findet es da, wo er wohnt, am schönsten. Ich glaube, das ist nicht ganz zufällig.“

Wie für viele Mütter dieser Generation typisch, hat die Mutter im Roman nie viel gesprochen. „Es gab wieder Rotwein und panierte Schnitzel, darum ging es“, erklärt Mittmann. Auf der Reise bricht diese Mutter erstmals ihr Schweigen und erzählt detailliert, wie die Vertreibung wirklich war, vom ersten Moment der Ungewissheit, ob man weg muss, über bedrohliche Szenen mit Gewehren, der Enge in den Güterwaggons, vom Gebet und gemeinsam gesungenen Marienliedern in diesen dunklen Waggons, über Zweifel, die am Glauben aufkamen bis hin zur Ankunft im Übergangslager. Die Leser werden mitgenommen auf die Reise in einem engen VW Beetle, dabei pendelt der eindringliche, dicht und pointiert geschriebene Text zwischen Gegenwart, der Zeit um 1945/46 und der Zukunft. Mittmann schafft es, auch Leser zu fesseln, die keine Vertriebenen in der Familie haben.

„Das Buch ist keine Geschichte von damals“, betont er. „Auf den Lesungen habe ich immer einen kleinen VW Käfer dabei. Er ist eine Metapher für eine Raumkapsel, um in eine andere Zeit zurückzufahren und etwas wiederzufinden, von dem sie gar nicht wissen, was sie im Grunde suchen.“

Positive Rückmeldungen bekam Mittmann bereits von allen Generationen. „Ich habe gesehen, dass sowohl Jugendliche bei Lesungen in Schulen als auch Leser, die Mitte 90 sind, alle ihre Schlüsse ziehen konnten.“ Auch die junge Generation könne durch das Erinnern ganz viel an sich im Hier und Jetzt verstehen. Er philosophiert: „Die Vergangenheit ist nicht vorbei, sie treibt sich ganz lebendig unter uns herum, so steht es im Epilog des Buches. Da ist es besser, sie zu kennen, um sich zu verstehen.“

Der Roman „Wodka mit Grasgeschmack“ ist im Kiener Verlag erschienen und kostet 15,95 Euro. ISBN: 978-3948442002

Sabine Moser